Unser Leben wird immer digitaler. Ein Geheimnis ist das nicht, im Gegenteil eher tägliche Erfahrung. Die meisten Menschen genießen den Zuwachs an Convenience, Effizienz und Status, der daraus erwächst – oder nehmen ihn zumindest neutral als gegeben hin. Auf der anderen Seite werden aber auch Stimmen lauter, die sich sorgen oder gar offen auflehnen gegen „too much digital“. So hat sich etwa in Berlin die Gruppe Radikale Anti Smartphone Front (RASF) gegründet. Ihr Ziel: der Kampf gegen ausufernde Smartphone-Nutzung. Also was jetzt: Ist die Digitalisierung unseres Lebens Segen oder Fluch für uns? Oder am Ende beides?
Unsere Kollegen Benjamin Dennig und Sebastian Klein (alte Bekannte in unserem Blog, zu verschiedenen Themen, z.B. Designforschung) spitzen die Sache mal etwas zu – nicht zuletzt vor dem Hintergrund dessen, was ihnen Konsumenten im Rahmen von Studien so alles gesagt haben zu dem Thema. Sie prognostizieren die (Wieder-) Entdeckung des Analogen in Zeiten fortschreitender Digitalisierung.
Viel Spaß mit dem “Standpunkt” der Kollegen…
Vernetzt – Entnetzt? – Zur Konjunktur einer Kampfvokabel
In Zeiten wie diesen, in denen die fortschreitende digitale Vernetzung zu einem sozialen Imperativ erhoben wird, scheint es, als ob potenziell alles miteinander verbunden werden kann – und SOLL. Unternehmen aus verschiedensten Branchen wittern im „Internet der Dinge“ großes Potential, um zum einen saturierte Märkte durch „neue“ Technologien zu revitalisieren und zum anderen über die ubiquitäre Vernetzung von sachtechnischen Artefakten und menschlichen Akteuren vermeintlich wertvolle Nutzungsdaten zu sammeln (Stichwort „Big Data“).
Es verwundert daher nicht, dass seit mehreren Jahren die Themen „Connectivity“, „Smart Home“, „Smart Devices“ und „Wearables“ in vermeintlich „profanen“ Lebensbereichen als lukratives Innovationsfeld verhandelt werden. Das stellt das Marketing in Unternehmen nicht selten vor die Herausforderung, den „digitalen Mehrwert“ von Produkten alltagsrelevant darzustellen:
Schreiben wir diese Vision als eine pragmatische Zielbestimmung fort, befinden wir uns in einigen Jahrzehnten tatsächlich in einer vollvernetzen Alltagswelt. Aber was, wenn wir dieser ständigen Vernetzung entfliehen wollen? „Wer nicht vernetzt sein will, der zahlt extra!“ – wird das die Zukunft sein? Als qualitativ Marktforscher gehen wir davon aus, dass künftig die explizite „Nicht-Vernetzung“ von Mensch und Maschine verstärkt nachgefragt werden wird und die „erkaufte Freiheit“ für Hersteller zu einem lukrativen Business Modell avanciert: „Ablasshandel 2.0“ könnte man zugespitzt sagen.
Dialektik des Digitalen und Wiedererstarkung der DIY Kultur
Ganz in der Tradition klassisch dialektischer Denkweisen, ist jeder Trend an einen Gegentrend geknüpft, so dass auch ein Mehr an Vernetzung unweigerlich seinen Gegenpart findet. Als Marktforscher entdecken wir schon heute genügend empirische Evidenz für diese Entwicklung.
In unserer Forschung vernehmen wir zunehmend besorgte Konsumentenstimmen, wonach durch Digitalisierung bzw. Mediatisierung Kompetenzen verloren gingen: das Wiedererlernen („Re-Skilling“) von vormals viablen Kulturtechniken unter dem Dach von DIY oder Maker-Kultur wird seit geraumer Zeit vehement nachgefragt. Seinen praktischen Ausdruck findet diese Revitalisierung nicht nur in der omnipräsenten Verhandlung des „richtigen Kochens“ oder Urban Gardening-Projekten, sondern auch in der Konjunktur von Maker-Webshops wie DaWanda.
Neben eindeutig strukturgenetischen Effekten führt die Wiederaneignung eines verloren geglaubten kulturellen Kapitals auch dazu das Subjekt wieder zu entdecken: Ganz beiläufig erhebt es sich – mehr oder weniger beiläufig – wieder zum Designer/Autor der soziotechnischen Konstellation: „Ich bestimme, wie mein Essen wird und nicht der vollautomatisierte und vernetzte Backofen…“
Der wachsende Wunsch nach Autonomie
Wir gehen davon aus, dass mehr Vernetzung das Bedürfnis nach mehr Autonomie evoziert. Betrachten wir beispielshalber die fortschreitende Digitalisierung von Haushaltsgeräten, so stellen wir fest, dass sich immer mehr Konsumenten inzwischen explizit dagegen wehren, Handlungskompetenz zu delegieren. Ähnlich wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, ist keines der beiden Konzepte ohne das andere zu verstehen!
Die Beziehungen – ganz gleich ob soziale, technische oder soziotechnische – werden unweigerlich hinterfragt bzw. neue „alte Beziehungen“ revitalisiert. Als ein konkretes Anzeichen für diesen Beziehungswandel kann Digital Detox gelten (http://digitaldetox.org/manifesto/) – auch wenn auch manch einer diese Idee als Neo-Romantik abstempeln mag: „We are more globally connected than ever before, but life in the digital age is far from ideal. The average American spends more than half of their waking life staring at a screen. The negative psychological, social and cultural impact is real. Things need to change.“ http://digitaldetox.org/manifesto/
Re-Assembling Relationships – die Zukunft der Vernetzung
In Anbetracht gegenwärtiger Diskussionen wie der rund um das Internet der Dinge, Samrt Homes und so weiter, soll hier ein Kontrapunkt aus der Praxisperspektive gesetzt werden. Das Internet der Dinge wird sicherlich kommen, doch gehen wir davon aus, dass die Sinnhaftigkeit so manch einer Vernetzung (muss meine Waschmaschine mit meinem Smartphone steuerbar sein?) zukünftig stärker hinterfragt wird.
Eine permanente und prädefinierte Vernetzung wird zunehmend abgelehnt werden und durch situative, selbstbestimmte Allianzen zwischen Mensch und Netz ersetzt. Doch wenn alle Artefakte per se schon vernetzt sind, wird die „Entnetzung“ zum kostbaren Gut. Man wird sich zukünftig also aus der Vernetzung freikaufen müssen – so wie es heute für werbefreies Fernsehen oder auch werbefreie Apps gilt.